Auf dem ersten Blick schließen sich Meditation nach buddhistischer Art und Psychotherapie gegenseitig aus.
Erstere hält uns dazu an, in meditativer Haltung Gedanken, Empfindungen und Emotionen einfach gewahr zu werden.
Dieses Gewahrsein führe zu einem tieferen Verständnis des Selbst und des Kosmos, im Idealfall zur Erleuchtung des Meditierenden. Um unsere Vergangenheit mit allen daraus erwachsenen Problemen brauchten, ja sollten wir uns nicht kümmern. Der Schlüssel zur Selbsterkenntnis liege im wachen und ungetrübten Gewahrsein des jeweiligen Augenblicks. Alles andere ergebe sich daraus.
Demgegenüber gehen die meisten psychotherapeutischen Ansätze davon aus, dass Störungen in unserer Persönlichkeitsentwicklung mit mehr oder weniger pathologischen Symptomen einhergehen, die in der Regel nur mit gezielten psychotherapeutischen Maßnahmen behoben werden könnten.
I. Berührungspunkte und Unterschiede zwischen Psychotherapie und Meditation
Das chinesische Zeichen für Wu wei = Handeln im Nicht-Handeln |
Das chinesische Zeichen für Tao = der Sinn, das Unbenennbare |
Dieser scheinbare Widerspruch führt uns zu einem feinen aber folgenreichen Unterschied zwischen Meditation und Psychotherapie, im weiteren Sinne zwischen östlichem und westlichem Denken:
Im Chinesischen bedeutet der Begriff Wu wei Handeln im Nicht-Handeln. Damit ist gemeint, dass wir aus der inneren Notwendigkeit des Augenblicks heraus handeln sollen und nicht auf die Konsequenzen, auf Erfolg oder Misserfolg, Vorteil oder Nachteil schielen sollten. Wir tun, was das Tao - als Gesamtheit aller fortwährenden Prozesse des Universums, oder im Buddhismus der Dharma als kosmisches Gesetz - von uns verlangen, ohne persönliche Interessen mit unserem Handeln zu verknüpfen. Im westlichen Denken kommt dem das sokratische Daimonion als innere göttliche Stimme bzw. Naturgesetz am nächsten.
Sokrates, 470 – 399 v. Chr. griechischer Philosoph - sein berühmtester Satz: Ich weiß, dass ich nichts weiß. |
Anders als in den östlichen Traditionen spielte in der Philosophie des Sokrates die innere Stimme als kommunikatives Verbindungsglied zu einer höheren kosmischen Intelligenz eine untergeordnete Rolle im Vergleich zum rationalen Denken, weshalb er heute philosophiegeschichtlich meist dem Rationalismus zugeordnet wird.
Dem modernen westlichen Denken ist das absichtslose, von persönlichen Interessen freie Denken noch wesentlich fremder als Sokrates und seinen Nachfolgern. So sind der descartsche Rationalismus und das mechanistische Weltbild Newtons auch heute noch maßgeblich für breite Teile der modernen Naturwissenschaften und in eingeschränktem Maße auch für geisteswissenschaftliche Disziplinen wie die Psychologie.
Im 20. Jahrhuntert haben sich Strömungen in der Psychologie und Psychotherapie entwickelt, die wieder an den ganzheitlichen Ansatz der philosophia perennis anknüpfen. Besonders erwähnen möchte ich neben dem Freudschüler C. G. Jung Campbell, Fromm, Maslow sowie die Vertreter der Transpersonalen Psychologie, unter anderen Grof und Wilber. Selbst die Psychoanalytiker sind von der Renaissance des östlichen Denkens nicht ganz verschont geblieben, wie zum Beispiel Mark Epstein.
René Descartes, französischer Philosoph, 1596 – 1650 Er wird als Begründer der neuzeitlichen Philosophie bezeichnet. Berühmt vor allem sein " cogito ergo sum ", ich denke, also bin ich. Kritiker sehen in ihm den Hauptverantwortlichen für einen einseitigen Rationalismus, dem wir viele Probleme der Gegenwart zu verdanken haben. Mein Ausbilder im Philosophie-Referendariat formulierte - sehr zur Freude seiner Schüler - das descartsche Leitmotiv um in "coitus ergo sum". |
Issac Newton, 1643 – 1727 Sein mechanistisches Weltbild war maßgeblich für die Physik des 18. und 19. Jahrhunderts und hat im makrokosmischen Bereich bis heute noch weitgehend Gültigkeit. Erst Einstein und besonders die Quantenphysiker des 20. Jahrhunderts konnten nachweisen, dass seine physikalischen Berechnungen auf den mikrokosmischen Bereich nicht anwendbar sind. |
Erich Fromm, 1900 – 1980 Bücher wie Haben oder Sein oder Die Kunst des Liebens sind philosophisch-psychologische Klassiker, die seit ihrem Erscheinen nichts an Bedeutung eingebüßt haben. Zu den Grundelementen aller Formen der Liebe gehören nach Fromm Fürsorge, Verantwortlichkeit, Respekt und Wissen. Das folgende Zitat aus Haben oder Sein bringt das philosophisch-spirituelle Leitmotiv des Autors auf den Punkt: In der Existenzweise des Habens findet der Mensch sein Glück in der Überlegenheit gegenüber anderen, in seinem Machtbewusstsein und in letzter Konsequenz in seiner Fähigkeit, zu erobern, zu rauben und zu töten. In der Existenzweise des Seins liegt es im Lieben, Teilen, Geben. |
Der 14. Dalai Lama geb. 1935 ging nach einem Aufstand gegen die chinesische Herrschaft 1959 ins Exil nach Indien. Im Jahre 1989 wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen. |
II. Vorteile einer Kombination von Meditation und Psychotherapie bzw. Selbsttherapie
Vor dem Hintergrund dieser neuen Entwicklungen halte ich eine Kombination aus Meditation und Psychotherapie nicht nur für möglich, sondern für empfehlenswert. Bei einem Treffen östlicher Meister und westlicher Therapeuten war der Dalai Lama sehr verwundert darüber, dass er immer wieder den Begriff geringes Selbstwertgefühl hörte. Er soll daraufhin in dem Raum umhergegangen sein und jeden einzelnen Therapeuten gefragt haben: "Leiden Sie darunter?" Als alle bejahten, soll er ungläubig den Kopf geschüttelt haben.
Diese Reaktion ist nur verständlich vor dem Hintergrund, dass in Tibet ein positives Selbstwertgefühl als etwas Selbstverständliches gilt. Von der Wiege bis zum Sterbebett wird es einem dort vermittelt, während uns Westlern meist eingetrichtert wird, dass wir nur dann wertvoll sind, wenn wir dies und jenes leisten oder besitzen.
Deshalb ist das östliche Denken nicht ohne weiteres auf den Westen übertragbar.
Den institutionell erzeugten Neurosen ist mit Meditation allein nicht beizukommen. Wir brauchen zusätzlich Therapie bzw. Selbsttherapie, um uns von den verinnerlichten Masken unserer Zivilisation zu befreien und wieder mit dem in Berührung zu kommen, was wir in jedem Augenblick unseres Lebens wesentlich sind. Meditation verstärkt zunächst stets, was in dem Meditierenden bereits vorhanden ist.
Dem Gesunden spiegelt sie Gesundheit, dem Kranken Krankheit, dem Freien Freiheit und dem Abhängigen Abhängigkeit. Wenn man die in der Meditation an die Oberfläche dringende Negativität - damit meine ich alles, was man gern loswerden möchte - nicht bewusst wahrnimmt und im Alltag nicht darauf achtet, dass sie geringer wird, kann man sich seinen Hintern wund sitzen, ohne dass sich etwas grundlegend und nachhaltig zum Positiven verändert. Das erklärt die Tatsache, dass so viele ihre Meditationspraxis nach wenigen Versuchen für immer aufgeben.
Für wen innere Unruhe der Anlass ist, mit dem Meditieren zu beginnen, der sollte sich des Phänomens der Anfangsverschlimmerung bewusst sein. Tritt diese nicht auf, kann es dafür zwei Gründe geben. Entweder hat man bereits tiefe Selbsterkenntnis und ein hohes Gewahrsein erreicht, bevor man mit dem Meditieren beginnt: In diesem Fall ist die noch unbewusste "Negativität", an der in Wirklichkeit außer der Unbewusstheit nicht Negatives ist, so gering, dass sie kaum für Irritationen sorgen kann.
Im zweiten - gar nicht so seltenen - Fall wird einfach nicht richtig meditiert. Das Bewusstsein wird mittels bestimmter Meditationstechniken eingeengt statt befreit und zusätzlich noch durch verkrampfende Erwartungen überfrachtet. Wahre Meditation ist aber nichts anderes als ein spezifisches Inderweltsein, das nicht mehr braucht und verträgt als ein waches, mitfühlendes, nonduales Gewahrsein seiner selbst und der Welt. Und das nicht nur, solange man auf dem Kissen sitzt, sondern in jedem Augenblick seines Lebens.
"Und das ist Meditation: nicht im Lotussitz sitzen oder auf dem Kopf stehen, sondern das Wahrnehmen der Ganzheit und Einheit des Lebens. Das ist nur möglich, wenn Liebe und Mitgefühl da sind. " Krishnamurti in "Das Licht in dir"