Laotse mit Konfuzius und Arhat bei einem meditativen Gespräch |
Die in der abendländischen Mythologie verwendete Metapher "Seele einhauchen" verbindet alle drei Grundbedeutungen, insofern aus toter Materie durch den göttlichen Hauch ein beseeltes Lebewesen entsteht. Hier liegt bereits der Grundstein für einen Leib-Seele-Dualismus, der sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der abendländischen Kultur zieht.
In östlichen Kulturkreisen ist der Begriff Seele dagegen weniger verbreitet, und stattdessen wird eine nichtduale Einheit angenommen, in der alle Gegensätze von Materie und Geist, von Immanenz und Transzendenz aufgehoben sind. Zwar gibt es auch in der indischen Advaita Vedanta-Philosophie den Begriff Atman, der ähnlich wie das altgriechische psyche Atem, Lebenshauch und Seele bedeutet, der aber im Sinne einer individuellen, unzerstörbaren Essenz des Geistes mit der Weltenseele Brahman wesenseins ist. Advaita Vedanta ist somit ähnlich wie der Taoismus und Buddhismus eine Philosophie, die auf Nichtdualität basiert.
In der Geschichte der westlichen Spiritualität finden wir nichtduale Ansätze vor allem in der christlichen Mystik des Mittelalters, zum Beispiel bei Meister Eckhardt, sowie in der philosophisch-spirituellen Interpretation quantenphysikalischer Phänomene.
Kulturübergreifend kommt dem Atem die Bedeutung der Lebenskraft zu. Mit dem ersten selbständigen Atemzug beginnt unser Leben und endet mit dem letzten. Je nachdem, wie wir atmen, versorgen wir unsere Körperzellen mit viel oder wenig Sauerstoff und beeinflussen damit unsere Vitalität positiv oder negativ. Die Atemfrequenz bewirkt innere Ruhe oder Unruhe und der Atemrhythmus hat maßgeblichen Anteil daran, ob wir in Balance oder unausgeglichen sind. Das Atmen ist also nicht nur im Zusammenhang mit Meditation eine zutiefst spirituelle Tätigkeit.
III. Spirituelle Wurzeln und Essenzen
Auch wenn die Wurzeln der Spiritualität bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurückreichen – wie etwa die der Veden und des Taoismus – so begegnen uns doch erst im 6. Jahrhundert vor Christus in Laotse und Buddha die beiden ersten großen spirituellen Lehrer. Im Laufe der Geschichte hat der Buddhismus eine wesentlich größere Verbreitung gefunden als der Taoismus. Dieser bietet jedoch auf der Suche nach den Wurzeln der Spiritualität den Vorteil, dass er auf einem Text basiert, in dem alle wesentlichen Elemente der Spiritualität enthalten sind, und der auch zweieinhalb Jahrtausende nach seiner Niederschrift nichts an Aktualität eingebüßt hat: das Tao Te King von Laotse.
Obwohl das Wort Spiritualität kein einziges Mal in dieser Schrift auftaucht und der Autor nicht etwa die Absicht hatte, eine Art "spirituelle Bibel" zu verfassen, gilt das Tao te king unter Freunden einer undogmatischen Spiritualität noch heute als spiritueller Klassiker ersten Ranges. Im Zentrum dieser Schrift steht der Begriff Tao.
Der Sinologe Richard Wilhelm stellte zutreffend fest, dass Laotse diesen Ausdruck als "ein algebraisches Zeichen für etwas Unaussprechliches" verwendete. Mathematisch könnte man es als ein X bezeichnen mit dem Definitionsbereich unendlich, was insofern einen logischen Widerspruch darstellt, als definire im Lateinischen begrenzen bedeutet. Für Laotse ist das Unbegrenzte nicht nur nicht begrenzbar und somit undefinierbar, sondern eigentlich unbenennbar. Deshalb wird Tao neben Sinn, Weg und Leben auch mit das Unbenennbare oder Namenlose übersetzt.
Wenn Tao als Metapher für das Grenzenlose per definitionem undefinierbar ist, kann man dann überhaupt etwas darüber aussagen? Von Laotse erhalten wir zunächst die für westliche Menschen unbefriedigende Antwort, dass es Sein und Nichtsein ist. Dem Ursprung nach, heißt es in Kapitel 1 des Tao te king, seien beide eins, und das Tao als Einheit von Sein und Nichtsein sei das tiefste Geheimnis.
Es ist sowohl das unentfaltete Urprinzip allen Seins und die universelle Wirkkraft in allem, was existiert, als auch die Gesamtheit aller Manifestationen, das heißt die raumzeitlose Einheit von Sein und Nichtsein, von Dualität und Nichtdualität, von Erde und Himmel, von Samsara und Nirvana usw. Diese kosmo-psychologische Weltsicht Laotses wurde im 20. Jahrhundert durch Forschungsergebnisse der Quantenphysik eindrucksvoll bestätigt, wie ich unter anderem auf der Seite I-Ging ausführlich dargelegt habe.
Zwar lässt sich das Tao nicht in die Karten blicken, wir können aber – ähnlich wie wenn wir ein Kartenspiel beobachten – erfahren, welche Karten auf den Tisch kommen und wie sie gespielt werden. Das I-Ging oder Buch der Wandlungen, mit dem Laotse sehr vertraut war, stellt mit seinen 64 Hexagrammen den Versuch dar, die "Spielkarten" des Tao in eine variable Systematik zu bringen, die dem spielkundigen Menschen als Orientierungshilfe sowohl für das Leben als Ganzes als auch für alltägliche Lebenssituationen dienen kann.
Die Einsicht in die Allmacht und Allgegenwärtigkeit des Tao ermöglicht es dem spirituellen Menschen, kontinuierlich in dem Bewusstsein zu leben, dass die phänomenale und die geistige Welt untrennbar miteinander verbunden sind. So kann er in jeder Erscheinung – das heißt in allen Gegenständen, Lebewesen und Ereignissen – gleichzeitig deren immanente Wandelbarkeit und Vergänglichkeit sehen und das diese bewirkende aber selbst im Verborgenen bleibende Unwandelbare und Unvergängliche in Aktion beobachten.
Die bloße Einsicht in diese fundamentale Konstante des Lebens, die alle Wandlungsprozesse vor dem Hintergrund des Unwandelbaren umfasst, ist zwar eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für ein spirituelles Leben. Erst wenn diese Einsicht, die weder durch Glauben noch durch Wissen, sondern allein durch wache Beobachtung gewonnen werden kann, tief im Denken und Handeln verwurzelt ist, kann davon gesprochen werden, dass ein Mensch im Einklang mit dem Ganzen lebt.
Das heute teilweise zu einer nichtssagenden Floskel verkommene "Im-Einklang-mit-dem-Tao-leben" ist bei Laotse eine kristallklare Konsequenz, deren Wurzeln im Taobegriff selbst verankert sind. Erkennt man das Tao als die alles gestaltende gestaltlose Macht an, resultiert daraus die kosmo-logische Konsequenz, im Bunde mit dieser Macht zu handeln und nicht gegen sie.
Im Taoismus wird für ein Handeln, das nicht auf die Durchsetzung des beschränkten Eigenwillens ausgerichtet ist, sondern sich bei jedem Atemzug am Willen des Ganzen orientiert, der Begriff Wu wei verwendet, meist mit Handeln im Nichthandeln übersetzt. Im Westen kommt dem das Loslassen am nächsten. Aus der Sicht des Tao heißt das:
"Tao ist ewig ohne Tun,
doch nichts bleibt ungetan."
Kapitel 37 nach Übersetzung W. Kopp
Für den im Einklang mit dem Tao Handelnden bedeutet es:
"Er setzt sein Selbst hintan,
und sein Selbst kommt voran.
Er entäußert sich seines Selbst,
und sein Selbst bleibt erhalten.
Ist es nicht also:
Weil er nichts Eigenes will,
darum wird sein Eigenes vollendet?"
Kapitel 7 nach der Übersetzung von Richard Wilhelm
Die im Wu wei enthaltene spirituelle Kraft des Loslassens lehrt nicht nur der Taoismus. Wir finden ähnlich starke Wurzeln beispielsweise im hinduistischen bhakti als die liebende Hingabe an einen personalen Gott und im vedischen tat twam asi = das bist du, im buddhistischen Mitgefühl als Konsequenz der Einheit von Nirvana und Samsara und ebenso im christlichen "Nicht mein, sondern dein Wille geschehe!"
Auf einen gemeinsamen Nenner gebracht, quasi als spiritueller Imperativ, könnte diese Botschaft lauten: "Lebe im Einklang mit dem Ganzen!" Sie ähnelt zwar Kants kategorischem Imperativ, unterscheidet sich aber von diesem in einem wesentlichen Punkt. Während Kant bei seiner Formulierung allgemeingültige Normen im Hinterkopf hatte, bedeutet Einklang mit dem Ganzen im spirituellen Sinne den völligen Verzicht auf Normen jeder Art zugunsten einer individuellen, augenblicksbezogenen Identifikation mit dem Ganzen und schließlich das daraus resultierende Handeln.
"Das Wahre ist das Ganze." Dieser Fundamentalsatz der hegelschen Philosophie basiert ebenfalls auf den alten Lehren von der Einheit und dem beständigen Wandel allen Seins. Wahrheit offenbare sich stets in der Entwicklung einer Person, einer Gruppe, einer Gesellschaft usw. Deshalb könne nie ein einzelnes Stadium im Entwicklungsprozess wahr sein, da dessen "Wahrheit" im nächsten Entwicklungsschritt bereits wieder aufgehoben werde. Und darum könne man bestimmte Lebensprozesse erst verstehen, wenn sie zum Abschluss, zur Vollendung gekommen seien: "Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug." G.W.F. Hegel
IV. Spiritualität und Moral
Moral ist die Zuordnung jedes Augenblickszustands unseres Lebens zu einem Dauerzustand.
Robert Musil deckt mit dieser Definition von Moral die Schwachstelle aller moralischen Vorschriften auf. Jede Moral geht von der falschen Voraussetzung aus, dass verschiedene Lebenssituationen miteinander vergleichbar seien. In Wirklichkeit erfordert aber jeder einzelne Augenblick von uns die individuelle Entscheidung für oder gegen ein bestimmtes Handeln. Wer einer moralischen Vorschrift folgt, orientiert sich nicht am Willen des Ganzen, der sich uns immer unmittelbar offenbart, sondern am Willen derer, die sich bestimmte Moralgesetze ausgedacht und für allgemein verbindlich erklärt haben.
Moral ist stets die Erfindung derer, die den unmittelbaren Kontakt zum Ganzen, wie auch immer dieses bezeichnet wird - Gott, Tao, Dharma usw. - verloren haben und glauben, diesen Verlust durch mehr oder weniger willkürlich aufgestellte Regeln kompensieren zu können. Moralisten tun sich mit dem Loslassen besonders schwer. Nicht selten entwickeln sie einen missionarischen Eifer, der die Einhaltung ihrer subjektiven Moralvorstellungen auch von anderen verlangt.
Heraklit, griechischer Philosoph 535 – 475 v. Chr. Er war der erste westliche Philosoph, der den permanenten Wandel allen Lebens betonte, auch wenn das berühmte - ihm immer wieder zugeschriebene - panta rhei = alles fließt höchst wahrscheinlich nicht aus seiner Feder stammt. |
Moralische Vorschriften bringen den Menschen dadurch in Verwirrung, dass er neben der inneren Stimme, die ihm klar sagt, was im jeweiligen Augenblick zu tun ist, noch eine zweite äußere Stimme hört, die ihm vorschreibt, wie er sich ganz allgemein zu verhalten hätte. Deshalb sagt Laotse:
"Die Moral aber ist nur der äußere Schein von Treue und Glauben und der Verwirrung Beginn."
Als Jesus am Sabbat einen Kranken heilte, geriet er nicht in Verwirrung, weil er sich ausschließlich am göttlichen Gesetz orientierte. Dagegen bestanden die scheinheiligen Pharisäer auf der Einhaltung der Gesetze aus Menschenhand und forderten den Tod des "unmoralischen" Rebellen aus Nazareth.
Auf Moral zu verzichten bedeutet nur bedingt, "Jenseits von Gut und Böse" zu sein. Jenseits davon ist man nur insofern, als man Gut und Böse als allgemein gültige Kategorien ablehnt. Dennoch stehen wir in jedem Augenblick vor der Wahl, der Stimme unseres Herzens zu folgen, oder ihr zuwider zu handeln. So wie Jesus wusste, dass seine Heilung am Sabbat gut war und deren Unterlassung böse gewesen wäre, so weiß jeder Mensch, solange er sich im Einklang mit dem Ganzen befindet, jederzeit was gut und böse ist und handelt im Idealfall danach. Verantwortungsbewusst handelt nur, wer seiner inneren Stimme folgt. Moral ist Flucht vor Verantwortung.
Zyniker könnten hier einwenden, dass Jesus besser nicht auf seine innere Stimme hätte hören sollen, da sie ihn schließlich ans Kreuz gebracht hat. Aus einer rein immanenten Weltsicht heraus ist diese Kritik nachvollziehbar. Wer sich aber für den spirituellen Pfad entscheidet, für den ist alles immer immanent und transzendent zugleich. Nur als bewusste Verkörperung des Ganzen war Jesus in der Lage, die – aus rein irdischer Sicht – schrecklichen Konsequenzen seines Verhaltens zu tragen, das heißt zu seinem Schicksal Ja zu sagen.
V. Spiritualität und Schicksal
Hermann Hesse über Schicksal und Spiritualität:"Wer wirklich gar nichts will als sein Schicksal, der hat nicht seinesgleichen mehr, der steht ganz allein und hat nur den kalten Weltenraum um sich. Wissen Sie, das ist Jesus im Garten Gethsemane. Es hat Märtyrer gegeben, die sich gern ans Kreuz schlagen ließen, aber auch sie waren keine Helden, waren nicht befreit, auch sie wollten etwas, was ihnen liebgewohnt und heimatlich war, sie hatten Vorbilder, sie hatten Ideale. Wer nur noch das Schicksal will, der hat weder Vorbilder noch Ideale mehr, nichts Liebes, nichts Tröstliches hat er! Und diesen Weg müßte man eigentlich gehen. Leute wie ich und Sie sind ja recht einsam, aber wir haben doch noch einander, wir haben die heimliche Genugtuung, anders zu sein, uns aufzulehnen, das Ungewöhnliche zu wollen. Auch das muß wegfallen, wenn einer den Weg ganz gehen will. Er darf auch nicht Revolutionär, nicht Beispiel, nicht Märtyrer sein wollen. Es ist nicht auszudenken."
Wer kann diesen Weg, den Hermann Hesse in Demian beschreibt, wirklich ganz gehen? Niemand, der für sich in Anspruch nimmt, spirituell zu leben, kommt daran vorbei, sein Schicksal zu wollen. Es nicht immer zu können, ist menschlich, doch bei jedem kleinen Unglück mit dem Schicksal zu hadern, wäre kindisch. Wer glaubt, seines eigenen Glückes Schmied zu sein, solange ihm das Glück zur Seite steht, neigt am ehesten dazu, mit dem Schicksal zu hadern, wenn sich das Glück einmal abwendet.
Die heute weit verbreitete Glückssucht ist der sicherste Garant für das Unglücklichsein, denn wer sich mit seinem Glück identifiziert, wird es auch mit seinem Unglück müssen, und dieses wird dann schließlich sein ständiger Begleiter, wenn er die Gründe dafür auf andere projiziert oder eine höhere Macht auf die Anklagebank stellt. Anhaftung und Projektion sind als eine Form von Unwissen die größten Hindernisse für ein spirituelles Leben, da sie jedes befreiende Loslassen verhindern. Auf dem spirituellen Pfad reift mit jedem Schritt die Erkenntnis:
Die Existenzform des Selbst ist das Loslassen und die des Ego das Anhaften. Anhaften heißt, Selbstmord begehen. |
"Woran du hängst, das ist dein Galgen."
Andreas Tenzer
Was hat der Mensch zu fürchten, der sein Schicksal will? Solange wir mit dem Ganzen verbunden sind, brauchen wir uns vor nichts zu fürchten, denn Angst – vom Lateinischen angustus = eng abgeleitet – entsteht erst dann, wenn wir die Trennung vom Ganzen als Gefühl der Enge in uns wahrnehmen. Enge bedeutet Gefangenschaft, und wenn die Wände, die uns gefangen halten, von allen Seiten auf uns zu rücken, bedeutet sie in letzter Konsequenz unseren Tod.
Das Gegenteil von Angst ist Urvertrauen, die Gewissheit, dass es außer in unseren Köpfen keine Enge gibt und dass der Kern unserer Existenz auf ewig in den Weiten des kosmischen Bewusstseins zu Hause ist. Urvertrauen weitet unseren Horizont ins Unendliche: Aus einengenden Wänden der Angst werden fliehende Wände der Befreiung, die sich am Horizont des kosmischen Bewusstseins von vertikalen Hindernissen in horizontale Brücken verwandeln, welche uns den Weg ins Unbegrenzte ebnen: Frei ist, wem die Wände fliehen!
Und nur wer in dem Urvertrauen lebt, dass alles Einengende verschwindet, wenn man sich nicht selber einengt, ist wirklich frei. Er will sein Schicksal, indem er darauf vertraut, dass - aus der Perspektive des Ganzen betrachtet - alles gut ist, was ihm im Leben begegnet und was mit ihm geschieht. So kann er Lebewesen und Dinge lieben, statt sich an ihnen festzuklammern oder zu erhängen.
Sein Schicksal wollen bedeutet vor allem, sein Schicksal nicht erzwingen zu wollen. Wir alle kennen das Phänomen, dass die Dinge, denen wir mit besonderer Verbissenheit nachjagen, für uns gar nicht oder nur mit einem unvertretbaren Aufwand zu erreichen sind. Greifen und Anhaften sind das Gegenteil von Loslassen und lösen Fluchttendenzen bei den in Angriff genommenen Gegenständen, Personen, Aufgaben oder Zielen aus. Selbst wenn es uns gelingt, das Ergriffene festzuhalten, können wir es nicht in Ruhe und Gelassenheit genießen, da wir permanent in Angst davor leben, dass es uns entwischen könnte.